Wie oft haben wir diesen Satz in den vergangenen Monaten gehört oder gelesen? Aber welche Aspekte des Lebens sind denn gemeint? Die gesellschaftlichen, die wirtschaftlichen oder die persönlichen? Und was bedeutet «im Griff haben»? Unausweichlich ausgeliefert sein oder nur wenig Spielraum und damit eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten haben?
Gehen wir der Frage nach, was genau uns wie im Griff haben soll.
Der Weg des Übergangs ist schmerzvoll
Systeme streben stabile Zustände an. In der Stabilität arbeiten sie effizient und die Optimierung dient dazu, dass sie durch intelligentes Zusammenwirken noch nutzbringender werden. Zeichnen sich Veränderungen ab, so muss auf dem Weg zu neuen Ordnungsmustern die Stabilität gestört werden. Es braucht dafür die Bereitschaft, sich von einem stabilen Zustand über eine krisenhafte Störung zu einem neuen stabilen Zustand zu bewegen (Peter Kruse). In der Phase des Übergangs zu neuen Mustern verliert eine Organisation an Leistungsfähigkeit, was eigentlich nicht gewünscht ist. Dieser Preis wird jedoch mit der Überzeugung bezahlt, das nächsthöhere Muster erreichen zu können. Auf diesem schmerzhaften Weg gilt es Neues zu lernen. Muss das gesamte erworbene «Stabilitäts-Wissen» verworfen werden? Nein, die Lösung besteht darin, ein «duales Betriebssystem» (John P. Kotter) aufzubauen. Das alte System gewährleistet Verlässlichkeit und Effizienz. Das neue System steht für die notwendige Agilität und Geschwindigkeit Umbrüche zu erkennen, die Chancen aufzudecken und diese zu nutzen oder grossen Gefahren auszuweichen. Dieses neue System ergänzt die Hierarchie der alten Organisation, ohne diese zu überlasten und ist netzwerkartig aufgebaut.
Kurt Lewin beschreibt in seinem Modell erfolgreicher Veränderungen 3 Phasen des Prozessmusterwechsels: das Auftauen der bestehenden Organisation, die eigentliche Veränderung und das Stabilisieren des neuen Verhaltens auf einem höheren Effizienzniveau. Von den Akteuren wird dabei viel verlangt: In der Phase des Auftauens sind es das Verlassen der Komfortzone, das Akzeptieren von Veränderungen oder das Durchbrechen von Routine und Gewohnheiten. Die Phase des Veränderns wird geprägt durch das Aushalten von Unsicherheit, das Kreieren einer Vision für die Zukunft, das Klären von Zielen oder das Erarbeiten von Alternativen. In der Phase des Stabilisierens festigt sich der neue Gleichgewichtszustand, so gilt es die neu gewonnen Fähigkeiten zu verankern und weiterzuentwickeln, frische Energie aufzubauen und motivierende Rahmenbedingungen für neue Ziele zu schaffen sowie mit einem neuen Kommitment zu agieren.
Isabell M. Welpe et al. beschreiben den Zustand des Abwägens von Verlässlichkeit und Effizienz sowie Flexibilität und Geschwindigkeit als Edge oft Chaos. Wird die Struktur von diesem Punkt aus erhöht, sinkt die Leistung aufgrund überbordender Bürokratie. Wird die Flexibilität von diesem Punkt aus erhöht, sinkt die Leistung ebenfalls und droht im Chaos zu enden. Diese Balance von Optimieren und Erneuern in einer von Schwankungen, Unsicherheit, Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit geprägten Welt zu finden ist nicht ganz einfach, jedoch erfolgsentscheidend.
Ein erstes Bündel an Fragen: Ist das Ereignis «Covid» auf eine vorbereitete Gesellschaft, Politik oder Wirtschaft getroffen? Hat «Ihr» Unternehmen mit der Pandemie verbundene oder von dieser aufgedeckte neue Prozessmuster «erahnt» und den mutigen Schritt zur Veränderung gefasst? Wurde mit aller Kraft versucht, das bestehende System zu stabilisieren? Wurde die Chance erkannt, jedoch mühsam versucht, die Veränderungen mit Methoden der «Vergangenheit» herbeizuführen? Auf welche Seite des Edge of Chaos driftete «Ihr» Unternehmen?
Karl Kruse zeigt auf, welche Fähigkeiten Unternehmerinnen und Unternehmer in der Phase des Optimierens und derjenigen des Erneuerns brauchen. In der Optimierung sind dies die guten Fähigkeiten des Organisierens und Steuerns von Systemen sowie das Coachen. Für den Prozess der Veränderungen bedarf es zweier weiterer Fähigkeiten: erstens Menschen mit Sinnhaftigkeit zu begeistern sowie zweitens diese zu vernetzten und damit Intelligenz zu moderieren.
Zweites Bündel an Fragen: Wie haben Ihre Vorgesetzten auf die Pandemie reagiert? Haben sie im Sinne des Optimierens Ziele gesetzt oder wurden Sie im Sinne des Erneuerns ermutigt, Neues zu wagen? Beispielsweise das Netzwerk in der Organisation oder über die Organisation hinaus zu erweitern (raus aus den Silos, rein in die Vernetzung)?
Duales Betriebssystem
In der Phase der Stabilität gilt es wie bereits erwähnt mit systematischem Management Verlässlichkeit und Effizienz zu schaffen. Auf dem Weg zu einer neuen Stabilität ist mobilisierende Führung gefragt. Diese sorgt für Geschwindigkeit und Flexibilität.
Die Grundprinzipien des dualen Betriebssystems sind (John P. Kotter):
- Wichtige Veränderungen werden von vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus allen Bereichen vorangetrieben und nicht nur von den üblichen Auserwählten.
- Es herrscht eine Haltung des Wollens und nicht des Müssens.
- Der Antrieb kommt aus dem Herzen und dem Kopf, nicht nur aus dem Kopf.
- Es findet viel mehr Führung statt und nicht nur mehr Management.
- Es gibt eine untrennbare Partnerschaft von Hierarchie und Netzwerk, nicht nur eine optimierte Hierarchie.
Drittes Bündel an Fragen: Wurde Ihrer Meinung nach die Pandemie als Chance genutzt, in Wirtschaft, Politik oder Gesellschaft mehr Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven zusammenzubringen? Wurden Ihnen in «Ihrem» Unternehmen die Freiheiten und das Vertrauen für Initiativen geschenkt? Wurde Ihr Wunsch, zu einer grösseren Sache beitragen zu wollen, gehört? Wurden Sie mit Visionen, Chancen oder Leidenschaft begeistert?
Genüssliche Selbstzufriedenheit
Selbstzufriedenheit und mangelnde Akzeptanz machen die Sache nicht wirklich einfacher. Die Zufriedenheit mit der aktuellen Situation lässt uns glauben, es seien keine Neuerungen mehr angezeigt. Fehlt es an Akzeptanz und dem Erkennen der Dringlichkeit, dass es etwas Neues braucht, drohen Stillstand und Widerstand.
Die Pandemie hat nicht nur die Wirtschaft, Gesellschaft und die Politik gewaltig gefordert, sondern auch uns Menschen in unseren Rollen als Mitarbeiterin, Vater, Grossmutter, Sohn, Fussballtrainer, oder Kirchgängerin. Mit SARS, BSE oder mit Schicksalsschlägen waren wir immer wieder gefordert uns anzupassen, so tiefgreifend und schnell wie bei der jetzigen Pandemie wurden wir jedoch selten überrascht.
Waren Sie und ich etwas zu selbstgefällig? Haben wir uns in der trügerischen Ruhe gut und bequem eingerichtet? Ein nicht unbekanntes Phänomen, wenn wir vor komplexen Entscheidungssituationen stehen. Können sich Menschen nicht entscheiden, welches der nächste Schritt für die Zukunft ist, bleiben sie lieber stehen. Oder sie entscheiden sich für den Schritt, den alle anderen auch gemacht haben. Was das Erstaunliche daran ist, sie hinterfragen ihr Nachahmen hinsichtlich der Wirkung kaum. Die Trägheit in der Selbstgefälligkeit ist auch der Ausgangspunkt der emotionalen Achterbahn. Alexander Groth hat diese basierend auf den Arbeiten von Elisabeth Kübler-Ross für die Führungsarbeit aufgearbeitet. Seine Beschreibung der Achterbahn (Selbstgefälligkeit, Verneinung, Zorn, Trauer, Akzeptanz und Integration) und der in den jeweiligen Situationen vorherrschenden Gefühls- und Verhaltensmuster ist einleuchtend, diese bewusst zu erleben ist beeindruckend.
Letztes Bündel an Fragen: Wie haben Sie im März 2020 reagiert (kommt schon gut, betrifft mich nicht, ist weit weg)? Wie hat sich Ihre Gefühlslage über die Zeit verändert? Haben Sie die neue Situation akzeptiert? Haben Arbeitsplatzverlustängste oder Sorgen um Mitmenschen Ihnen den Schlaf geraubt? Sind Sie verärgert darüber, dass die Behörden nicht ausreichend Masken in der erforderlichen Qualität oder den Impfstoff für die Risikogruppen bereitstellen konnten?
Zurück zum Titel des Beitrags: Das Coronavirus hat unser Leben voll im Griff. Ist es nicht vielmehr so, dass wir den Umgang mit Veränderungen in den Griff bekommen müssen? Gesellschaft, Politik sowie Unternehmen sind gefordert, die Musterwechsel zu erkennen und neue Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Es gilt Energie in Prozesse zu investieren, deren Erfolg noch nicht bekannt ist. Dies trifft auch auf uns selbst zu. Starten wir mit dem Bau unseres persönlichen dualen Betriebssystems. Nehmen wir die Fähigkeiten und Erfahrungen aus der Zeit von vor der Pandemie mit und lernen mit der Pandemie neue Vorgehensweisen. Wir sind dann eher fit für die nächste Veränderung. Diese wird bestimmt kommen.
Quellenmaterial für den Beitrag:
Peter Kruse: Erfolgreiches Management von Instabilität
John P. Kotter: Leading Change, Accelerate
Alexander Groth: Führungsstark im Wandel
Isabell M. Welpe, Prisca Brosi, Tanja Schwarzmüller: Digital Work Design