Das Wunder von Bern
Italien 1347. Der «Schwarze Tod» kommt per Schiff von der Krim und geht Anfang Oktober in Messina von Bord. Das Sterben beginnt. Nachrichten, was da in Sizilien geschah, müssen sich wie ein Lauffeuer verbreitet haben. Massnahmen nicht: Die Schiffe aus Messina fahren weiter. Anfang November sind sie in Marseille. Dann bricht die Pest in Frankreich aus. Die Geschwindigkeit, mit der die Infektion vorankam, war je nach der Dichte des Verkehrsnetzes und der Intensität der Handelsbeziehungen von Region zu Region verschieden, doch bis 1351 hatte sie ganz Europa erfasst. Ganz Europa? Nein, drei Regionen blieben verschont: die Pyrenäen, das Landesinnere Polens und das Gebiet um Mailand. Polen und die Pyrenäen profitierten von ihrer Randlage und geringen Bevölkerungsdichte. Die Metropole Mailand lag im Auge des italienischen Peststurms. Dass ihre Einwohnerschaft dennoch nicht dezimiert wurde, ist allein mit seuchenpolitischen Massnahmen des Stadtregenten Luchino Visconti zu erklären. Als im Frühjahr 1348 die Pest nahte, liess der Mailänder Herrscher Vorräte anlegen und die Stadt komplett isolieren: Die Stadttore wurden geschlossen und Kranke in der Stadt vorsorglich eingemauert.
Russland 1938. Patient null hiess Abraham Berlin. Im Winter 1939 hatte sich der russische Mikrobiologe aus Saratow bei einem Tierversuch mit einem noch nicht freigegebenen Pest-Impfstoff infiziert. Ohne Wissen über die eigene Ansteckung brach er zu einer Dienstreise nach Moskau auf. Abraham Berlin kam mit Verdacht auf Lungenentzündung in ein Moskauer Krankenhaus, wo der ebenso umsichtige wie todesmutige Arzt Simon Gorelik Lungenpest diagnostizierte. Er schloss sich mit dem Infizierten ein, informierte die staatlichen Stellen und löste damit eine beispiellose von Stalins Geheimdienst organisierte Kontaktverfolgung aus. Manch einer dürfte wohl an Flucht oder Selbstmord gedacht haben, denn jeder weiss, in welcher Absicht Stalins gefürchteter NKWD die Menschen normalerweise nachts aus den Wohnungen holt. Erklärungen werden nicht gegeben und selten erfragt – Isolation und Liquidation. Alle Informationen über die gerade noch gebannte tödliche Gefahr für die Millionenmetropole Moskau wanderten in geheim gehaltene Archive. Stalins Geheimdienst vereitelte eine Pandemie. Am Ende siegte der rote Terror über den Schwarzen Tod.
Ein starker Staat in der Krise
Die Superhelden in diesen Geschichten sind der brutal und rücksichtslos agierende Geheimdienst Stalins auf der einen und die Einmann-Show des Stadtherrn von Mailand auf der anderen Seite. Die Moral dieser Geschichten ist nicht die des starken Mannes. Demokratie hat eine ganze Fülle von verschiedenen Massnahmen in der Pandemie möglich gemacht: zwangsweise Absonderung von Quarantänebrechern in geschlossenen Einrichtungen, nächtliche Strassensperren, verdachtsunabhängige Personenkontrollen, die Abriegelung Tirols, das Sprechverbot in öffentlichen Verkehrsmitteln in Mallorca, die Genehmigung von Einkaufszeiten nur nach Antrag per SMS bei der Polizei in Griechenland. Die Lehre ist: Seuchenbekämpfung gilt in allen politischen Systemen als Gradmesser staatlicher Handlungsfähigkeit. Versagen die Institutionen, kostet das Tausende von Menschenleben. Politisch gedacht: Wer in der Bekämpfung der Pandemie erfolgreich ist, wird wiedergewählt. Nicht bei uns! Die Verantwortung ist schön verteilt und niemand ist wirklich verantwortlich. Sie mäandert zwischen einem Bundesrat, dem Gesamtbundesrat, einem Bundesamt, den Kantonen.
COVID-19 ist etwas Neues unter der Sonne – für uns alle mit Ausnahme der asiatischen Staaten, deren Erfahrung mit SARS sie auf COVID-19 vorbereitet hat; die Bevölkerung war an drastische Vorsichtsmassnahmen zur Eindämmung des Virus gewöhnt. Unser System fuhr sehr lange sehr gut mit dem Zwang zum Kompromiss und zum Konsens – keine schnellen Wendemanöver, kein Risiko. Besser wir diskutieren mit den Passagieren, ob wir drei Grad nach links oder nach rechts steuern. Regelmässiges Abstimmen über den Kurs mit den Passagieren. Das alles immer langsam, um die Tiefen auszuloten.
Staatsversagen?
Am 13. März 2020 fasste Mike Ryan, Exekutivdirektor der WHO, in einer Pressekonferenz die Lehren zusammen, die er aus der Bekämpfung des Ebola-Virus mit Blick auf COVID-19 gezogen hatte: Schnell sein. Perfektion ist der grösste Feind für das Krisenmanagement. Hätte der Staat von Anfang an die Maske als Schutz für andere propagiert, hätte man die Chance gehabt, durch eine Kombination von Selbstverantwortung und Appell deren Gebrauch durchzusetzen – und das ohne gesetzliche Sanktionen. Fehlanzeige, da die Behörden zu Beginn der Krise den Nutzen von Masken negiert hatten. Übernahm irgendjemand für diesen Fehler die Verantwortung?
Die Pandemie ist ein Ereignis, ein Bruch, wo das Bedürfnis nach Orientierung grösser wird, weil die Zukunft noch weniger berechenbar erscheint. Der Bundesrat weiss nicht mehr so recht, wie es weitergeht. Das Personal passt nicht zum Problem. Unsere Entscheidungsträger sind in einer Sackgasse, die ihnen, ohne einen Gesichtsverlust zu riskieren, nur noch das „Weiter so“ erlaubt. Die Angst vor Fehlern und deren Konsequenzen paralysiert. Lieber nichts tun, anstatt zu handeln und damit vielleicht falsch zu liegen. Bürokratisch gelähmt, da auf allen Entscheidungsebenen zu wenige Menschen noch gewillt sind, Verantwortung zu übernehmen. Satt und nicht gewillt, Risiken einzugehen. Das führt zu Starrheit und Unflexibilität in der politischen Klasse, die desto stärker an hergebrachten Strategien festhält, je deutlicher wird, dass sie nicht wirken. Ich wette, dass es bei der Reform der Altersvorsorge nicht anders sein wird.
Wir haben den Pragmatismus verlernt, das strategische Denken, das praktische Handeln. In der Pandemie, einer Krise, zeigt sich der wahre Charakter. Der letzte Leistungstest dieser Art war im 2. Weltkrieg. Mit General Guisan hatten wir eine Persönlichkeit, welche die Widerstandskraft des Schweizervolkes mit Information, stärkenden Zeichen und Worten systematisch zu nähren wusste. Stichwort Rütlirapport! Bis heute hat kein Bundesrat, kein Amtsdirektor, die Souveränität zuzugeben, dass schwerwiegende Fehler gemacht worden sind: Das Fiasko mit den Masken, falsche Zahlen, fehlerhafte Verordnungen – geht etwas schief, sind oft andere schuld. Die Wirtschaft, die zu früh Lockerungen wollte. Die Kantone, die zuwarteten.
Trendwende
Was können wir aus unserer Geschichte der Pandemiebekämpfung lernen? Welche Konsequenzen ziehen wir daraus für die Zukunft und besonders gegenüber unseren Kindern und Enkeln? Haben wir die Entschlossenheit, „es“ jetzt und in Zukunft besser zu machen? Wir befinden uns an einem Punkt, wo es um eine grundsätzliche Neuorientierung der Politik und unserer Gesellschaft hin zu mehr Selbstverantwortung geht, um besser für die Zukunft gewappnet zu sein, als es diesmal der Fall war.
Das Wunder von Bern. Niemand weiss genau, wann es begonnen hat, aber eines Tages entwarf der Bundesrat ein proaktives Narrativ zur Pandemie, das es erlaubt und fordert, Risiken einzugehen, das einen Erfolg verspricht, aber auch einen Misserfolg für denkbar hält, aus dem man dann lernen kann. Ein Narrativ, das einem die Chance gibt, sich in der neuen Normalität einzurichten, anstatt immer wieder neu in den Alarmzustand versetzt zu werden. Ein Narrativ, das Selbstständigkeit fördert, statt zu passivem Gehorsam für die Regeln zu erziehen. «Sie müssen schon sehen», ist der Satz, den die Schweiz von Bundesrat Berset vielleicht am häufigsten gehört hat. Der Bundesrat als Lehrer und der Bürger als Schüler, der es noch nicht ganz verstanden hat. Nach einem Jahr Pandemie ist es die Pflicht des Staates, klar und simpel zu kommunizieren, damit man versteht, worum es geht. Nur dann können Eigeninitiative und Eigenverantwortung wahrgenommen werden. Um in der nächsten Pandemie besser vorbereitet zu sein, brauchen wir eine Diskussion über die politische Verantwortung der massgeblich Handelnden. Fehler passieren, sollen auch erlaubt sein, aber die Verantwortlichen müssen in so einem Fall offen zu ihren Versäumnissen stehen und auch die Konsequenzen tragen, d.h. konkret, dass man als Bundesrat oder Beamter wegen Inkompetenz und Dilettantismus auch mal gefeuert werden kann.
Gelingt uns das nicht, verliert der Staat und seine Institutionen weiter an Glaubwürdigkeit und wir werden aus unseren Fehlern in dieser Pandemie nichts gelernt haben.