Vor nicht allzu langer Zeit sind wir nach einer langen Schockstarre und einem Jahr mit unrealistischen Erwartungen aus dem Tiefschlaf erwacht und haben gelernt zu akzeptieren, dass unser Leben sich durch die Pandemie nachhaltig und endgültig verändert hat. Die Covid-19-Pandemie hat unser gewohntes Leben auf den Kopf gestellt und uns an altbewährte Werte zurückerinnert, welche wir in den letzten Jahren im Dichtestress aus den Augen verloren haben. Andererseits wurden wir im Bereich digitaler Möglichkeiten meilenweit und innert kürzester Zeit in die Zukunft katapultiert. Zwei Welten, die auf den ersten Blick schwer vereinbar scheinen, eröffnen uns viele neue Möglichkeiten und zahlreiche Chancen. Vor allem eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit: Ein Gewinn, den es zu wahren gilt.
Dichtestress
Erinnern wir uns an die Zeit vor der Covid-19-Pandemie: Wir mussten früh raus, kamen spät nach Hause und beklagten uns über überfüllte Züge, Pendlerströme sowie Pensionierte und Familien, welche die Frechheit haben, zu Stosszeiten ebenfalls den öffentlichen Verkehr zu nutzen. Me-time wurde zwar grossgeschrieben und gehörte zum guten Ton, wirklich leisten konnten sich diesen Freiraum aber nur wenige. Wir erledigten unsere Rückrufe zwischen Meeting und nächster Präsenzveranstaltung während der meist mehrstündigen An- oder Rückreisezeit. Zum ungestörten Arbeiten kamen wir häufig erst nach Feierabend, nachdem wir die uns schier überrollende und ständig grösser werdende Mailflut priorisiert hatten.
Wir gönnten uns selten Pausen draussen in der Natur, organisierten als privilegierte, partnerschaftlich organisierte Mütter und Väter stattdessen während unserer Mittagszeit mit einer Selbstverständlichkeit den Haushalt, die Einkäufe sowie die Betreuung unserer Kinder. Den Umstand, dass sich die Arbeitslast der partnerschaftlich agierenden Familienoberhäupter in der Praxis selten aufeinander abstimmen liess oder schlimmstenfalls gleichzeitig den Peak erreichte, hatten wir längst akzeptiert und gaben stets unser Bestes. Unsere Kinder spielten als «Faktor Unberechenbarkeit» häufig das Zünglein an der Waage. Es liess sich nicht vermeiden, dass wir ab und zu strauchelten – sowohl in privater als auch beruflicher Hinsicht. Wir rafften uns wieder auf, um anschliessend mit dem akribischen Abarbeiten unserer endlos scheinenden To-Do-Liste wieder von neuem zu beginnen.
So war es vor Corona und so wird es schlimmstenfalls auch danach weitergehen – mit dem grossen Unterschied, dass sich die Welt um uns herum rasant verändert hat. Was wir tun sollten? Bestenfalls halten wir Schritt und nutzen die neu geschaffenen Freiräume für Innovation, Kreativität und Entschleunigung. Drei Elemente, die wir im auf allen Ebenen herrschenden Dichtestress leider zu oft auf der Strecke gelassen haben. Was wir fast vergessen hatten, ist der Umstand, dass genau diese Bereiche Grundlage unserer Motivation und Zufriedenheit sind. Durch neue Arbeitsformen erhalten wir nun die Chance, die Segel neu zu setzen.
Erreichbarkeit, Agilität und Netzwerk
Die Corona-Krise hat festgefahrene Steinzeitmuster und zementierte Regeln, welche über Jahre nicht hinterfragt wurden, in ihren Grundfesten erschüttert und wie ein Beschleuniger für ortsunabhängige und zeitlich flexible Arbeitsformen gewirkt. Nachdem durch die Umsetzung flächendeckender Home-Office-Möglichkeiten und dem Beweis, dass durch die dezentrale Struktur der fachliche Austausch nicht in Mitleidenschaft gezogen wird, die grössten Bedenken aus dem Weg gerollt werden konnten, ist dezentrales und flexibles Arbeiten in Zukunft nicht mehr wegzudenken. Wo früher Präsentismus an erster Stelle stand, schreiben sich innovative Unternehmen heute Erreichbarkeit, Agilität und Netzwerk auf die Fahne. Insbesondere Arbeitnehmende mit Familienpflichten profitieren von dieser Flexibilisierung und können ihre Ressourcen individueller, zielgerichteter und gewinnbringender zugunsten der Unternehmen einbringen. Lange Arbeitswege, dem Präsentismus geschuldete Leerlaufzeiten und unnötige Präsenzveranstaltungen lassen sich nicht mehr rechtfertigen. Das ist gut so und höchste Zeit!
Unser Leben wurde durch Corona in vielerlei Hinsicht entwirrt und vereinfacht. Wir wurden dank dem von aussen diktierten Entzug der permanenten Reizüberflutung auf grundlegende Werte zurückgeworfen und haben bestenfalls die Schönheit in den kleinen Dingen wiederentdeckt. Wir geniessen die neu gewonnenen Zeitfenster und die Möglichkeit zu jeder Tages- und Nachtzeit unsere Arbeiten zu verrichten, Erledigungen zu tätigen oder asynchrone Veranstaltungen besuchen zu können. Wo wir uns früher dafür oder dagegen entscheiden mussten, stehen uns heute verschiedene Teilnahmemöglichkeiten offen. Diese Ungebundenheit erlaubt es uns, unser Privatleben optimaler mit unseren beruflichen Verpflichtungen zu verbinden, was sowohl auf beruflicher als auch auf privater Ebene für mehr Entspannung sorgt und uns insgesamt ausgeglichener stimmt. Das altbewährte System erinnert im Vergleich dazu eher an zwei Autobahnen die gleichzeitig mit Tempo 120 befahren werden sollen: Auf längere Dauer ein Ding der Unmöglichkeit.
Online als gewinnbringende Alternative
Die Covid-19-Pandemie hat uns das physische Zusammenkommen für lange Zeit verunmöglicht und wir sind zwangsläufig und in erster Linie unfreiwillig auf digitale Möglichkeiten ausgewichen. Fest steht, dass wir uns nach realen Treffen sehnen und diese auch in Zukunft eine wichtige Rolle in unseren Privat- und Berufsleben spielen werden. Virtuelle, durch Algorithmen gesteuerte Alternativen, vermögen das Erleben von Spontanem, nicht gesuchtem glücklicherweise niemals zu ersetzen.
Nun gilt es, die beiden Pole miteinander sinnvoll zu verknüpfen. Der Sprung ins neue Zeitalter gelingt uns, wenn wir uns die zahlreichen zuvor geschilderten Vorteile vor Augen führen. Nebst dem persönlichen Zeit- und Flexibilitätsgewinn können wir auch in geschäftlicher Hinsicht von der fortschreitenden Digitalisierung profitieren. Unsere Dienstleistungsangebote werden immer häufiger online nachgefragt. Wir erreichen damit ein vielfach grösseres Publikum und senken gleichzeitig die Zugangshürden. Es liegt nun in unserer Hand, entsprechende digitale Zugriffs- und Zugangsmöglichkeiten zu schaffen und uns auf dem Markt entsprechend zu positionieren.
Neues Arbeitsverständnis
Das Spektrum an notwendigem Wissen hat sich durch die höhere Komplexität, welche die neuen Möglichkeiten mit sich bringen, massiv erweitert. Zeitgleich entwickelt sich das Know-How in zahlreichen Bereichen rasant weiter, weshalb wir uns von der Idee lösen müssen, uns auf allen Ebenen eigenes fundiertes Wissen aneignen zu wollen. Zudem ist Wissen durch den technologischen Fortschritt bereits heute immer und überall verfügbar. Demnach werden wir vermehrt externes Expertenwissen beiziehen und unser Netzwerk – das Kapital der Zukunft – pflegen und im richtigen Moment einbinden.
Die Rückbesinnung auf den Wert der Gemeinschaft sowie die Möglichkeiten des unkomplizierten virtuellen Austausches haben schliesslich Einfluss auf unser Verständnis von Teamarbeit. Wir lösen uns von der Vorstellung, dass Projektarbeit «von oben herab» delegiert wird und schaffen uns Arbeitsfelder, wo wir interdisziplinär auf Projektbasis an gemeinschaftlich getragenen Ideen mitarbeiten und mit unserem Fachwissen zum grossen Ganzen beitragen. Immer wichtiger werden in diesem Zusammenhang gemeinsam getragene Wert- und Zielvorstellungen, definierte Etappenziele sowie ein guter Austausch innerhalb der dezentral organisierten Arbeitsgruppen.