Die Covid-19-Krise führt zu einer merklichen Stärkung des staatlichen Einflusses auf Wirtschaft und Gesellschaft. Wir sind gut beraten, den zusätzlichen Risikotransfer wirtschaftlichen Handelns zum Staat nur so lange zuzulassen, wie unbedingt nötig. Ansonsten droht eine Erosion des liberalen Selbstverständnisses mit weitreichenden Folgen. Dem gilt es mit aller Kraft Einhalt zu gebieten.

Der Fürsorgestaat als Retter in der Krise – notwendig und doppelt kostspielig
Die Covid-19-Krise stellt riesige Herausforderungen an Wirtschaft und Gesellschaft. Die Schweiz kann sich glücklich schätzen, dass ein eingespielter und effizient funktionierender Sozialstaat zur Verfügung steht, der die krisenbedingten Ertrags- und Erwerbsausfälle der Unternehmen, der Selbständigen und der Angestellten in grosszügiger Form abfedert.
Die volkswirtschaftliche Bedeutung dieser Sofortmassnahmen ist immens, der Preis dafür aber auch. Im Jahr 2020 gab der Bund rund 15 Milliarden Franken für die Bewältigung der Pandemie aus, für 2021 sind auf Bundesebene bis dato zusätzlich rund 23 Milliarden Franken bewilligt worden. Inklusive den Aufwendungen der Kantone, den geschätzten Verlusten aus Bürgschaften sowie Budgetnachträgen geht Bundesrat Ueli Maurer von Kosten von rund 50 Milliarden Franken per Ende 2021 aus. Dazu kommen zusätzliche Schulden aus dem ALV-Fonds (5 Milliarden) und drohende Mindererträge durch sinkende Steuereinnahmen.
«Wer, wenn nicht die reiche Schweiz, kann sich das leisten»? ist eine rhetorische Frage, die man oftmals zu hören bekommt, wenn man seiner Sorge angesichts dieser Zahlen Ausdruck verleiht. Gewiss, die reiche Schweiz ist in der glücklichen Lage, dass sie sich auf Reserven und eine vergleichsweise tiefe Verschuldung abstützen kann, welche grosszügige Massnahmen erlauben. Die Rechnung wird durch die nächste(n) Generation(en) bezahlt werden müssen und es liegt umso mehr in unser aller Interesse, die Instrumente effizient, massvoll und zeitlich befristet auszugestalten.
Das schwerwiegendere Problem als die kurzfristigen Massnahmen und die aufgetürmten Schulden sind die langfristigen Auswirkungen, insbesondere der Vormarsch des fürsorgenden Staates in den Köpfen der Bevölkerung und eine sich daraus ergebende mittel- und langfristige Erosion von Eigenverantwortung und Eigeninitiative. Die Pandemie hat den Staatseinfluss enorm verstärkt und es besteht die reelle Gefahr, dass die Massnahmen im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Pandemie schleichend dazu führen, dass zusätzliche staatliche Eingriffe in die Wirtschaft und ein weiterer Ausbau des Fürsorgestaates mehrheitsfähig werden. Eric Gujer, Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung, hat dieser Sorge in einem Kommentar im Frühling 2020 mit dem Begriff «Seuchensozialismus» als Bedrohung von liberalem Selbstverständnis und Marktwirtschaft in pointierter Form Ausdruck verliehen. Der mediale Sturm, die empörten Reaktionen und die verkürzte Wiedergabe liessen schon damals aufhorchen. Eric Gujer hatte offenbar ins Schwarze getroffen.
Die Entwicklung des Sozialstaates in der Schweiz und die Mär vom Sozialabbau
Die relevante Frage lautet, wieviel staatliche Fürsorge nach Bewältigung der aktuellen Krise mittel- und langfristig volkswirtschaftlich notwendig, sinnvoll und erwünscht ist. Dazu sei kurz die historische Entwicklung und das Wesen des Sozialstaates in der Schweiz in Erinnerung gerufen:
Inspiriert von der Sozialgesetzgebung ab 1883 in Deutschland unter Bismarck, ertönte auch in der Schweiz der Ruf nach obligatorischen, eidgenössischen Sozialversicherungen immer lauter. Die folgende Entwicklung verlief gutschweizerisch bedächtig. Obwohl das Parlament bereits 1890 die verfassungsrechtliche Grundlage für den Aufbau einer eidgenössischen Sozialversicherung legte, wurde nach Niederlagen an der Urne erst über zwanzig Jahre später ein erstes Kranken- und Unfallversicherungsgesetz eingeführt. Die Unzufriedenheit über die unzureichenden Lohnfortzahlungen für Militärdienstpflichtige während des ersten Weltkriegs, gepaart mit den sozialen Verwerfungen der Weltwirtschaftskrise, legten den Nährboden, dass 1939 eine umfassende Lohnersatzordnung in Kraft trat, welche hälftig durch die Eidgenossenschaft und hälftig durch die Sozialpartner finanziert wurde. Deren Erfolg führte dazu, dass nach dem zweiten Weltkrieg die Forderungen nach einer ähnlich strukturierten staatlichen Alter- und Hinterbliebenenversicherung (AHV) immer lauter ertönten und schliesslich mehrheitsfähig wurden. In der Folge wurde mit der Einführung der AHV (1948), der Arbeitslosenversicherung (1951), der Erwerbsersatzordnung (1952) und der Invalidenversicherung (1960) in kurzer Zeit ein umfassender Sozialstaat geschaffen.
Da jedoch AHV- und IV-Renten deutlich unter dem Existenzminimum lagen, wuchs der Druck für einen weiteren Ausbau der staatlichen Altersvorsorge stetig. Im Jahr 1972 gab das Volk dem moderaten Ausbau der Altersvorsorge im Rahmen des Drei-Säulen-Modells gegenüber einer Umwandlung der AHV zu einer «Volkspension» glücklicherweise den Vorzug.
Heute verfügt die Schweiz über ein umfassendes Netz aus Sozialversicherungen, bestehend aus den fünf Bereichen AHV, Krankheit / Unfall, Erwerbsersatz für Dienstleistende / Mutter- und Vaterschaft, Arbeitslosigkeit sowie Familienzulagen. Die Rentenmodelle der AHV basieren dabei auf längst überholten Annahmen zur Lebenserwartung. Wie schwierig es ist, diese Modelle der Realität anzupassen, lässt sich am feststeckenden Reformprojekt AHV21 trefflich ablesen. Obwohl die Schieflage der AHV offensichtlich ist, wird die dringend notwendige Reform von links in einem Akt von Realitätsverweigerung bekämpft. Aus individueller Sicht ist das Bedürfnis nach Besitzstandwahrung nachvollziehbar, der Blick aufs grosse Ganze offenbart aber die Tatsache, dass die Zeche in Zukunft bezahlt werden muss, wenn wir in der Gegenwart über unsere Verhältnisse leben.
Oftmals zu hören ist in diesem Zusammenhang auch die Mär eines «Sozialabbaus», der angesichts des Reformdrucks drohe. Das Gegenteil davon ist wahr: es wäre höchst unsozial, dabei zuzuschauen, wie das bestehende Netz der Sozialversicherungen mittelfristig finanziell kollabiert oder die sich anhäufenden Fehlbeträge durch eine Erhöhung der Faktorkosten finanziert werden – zum nachhaltigen Schaden der Schweizer Wettbewerbsfähigkeit, welche letztlich der Garant dafür ist, dass soziale Sicherheit überhaupt finanziert werden kann.
Ein Blick auf die zahlreichen Ausbauprojekte in den Sozialversicherungen der letzten und kommenden Jahre lässt diesbezüglich nichts Gutes erahnen. Und der Appetit kommt bekanntlich mit dem Fressen: Kaum ist der Vaterschaftsurlaub von zwei Wochen Realität, überbietet sich die politische Linke mit Ideen zu einer Elternzeit von bis zu 18 Wochen.
Eine Bedrohung des liberalen Selbstverständnisses und der Marktwirtschaft
Ziel muss es sein, die bestehenden Systeme des Sozialstaates zu sichern und deren Kern, die AHV, nachhaltig zu sanieren und zu stabilisieren. Notwendig ist eine Beschränkung auf das langfristig Finanzierbare und Wesentliche, ein Masshalten bei weiteren Ausbauschritten und eine Abkehr vom grassierenden Anspruchsdenken.
Mag jeder weitere Ausbau der sozialen Sicherung und damit der Vormarsch des Staates noch so gut mit moralisch hehren Zielen (Überwindung von Armut, Gerechtigkeit etc.) begründet werden, in der finalen Konsequenz einer solchen Entwicklung droht – gewollt oder ungewollt – Sozialismus und eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel und von Kapital. Friederich August von Hayek hat dies 1944 in seinem Buch «The Road to Serfdom» («Der Weg zur Knechtschaft») treffend veranschaulicht und das Buch mit der Widmung «Den Sozialisten in allen Parteien» versehen.
Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass uns der Staat immer mehr Risiken abnimmt. Damit wächst unweigerlich auch die Abhängigkeit der Wirtschaftssubjekte vom Staat und damit dessen Einfluss in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Belangen. Das liberale Credo «So viel wie nötig, so wenig wie möglich» sollte nach Bewältigung der aktuellen Krise wieder zur Maxime werden und unser Denken und Handeln bestimmen. Diese goldene Regel hat nebst anderen Faktoren massgeblich zur erfolgreichen wirtschaftlichen Entwicklung der Schweiz in den letzten 100 Jahren beigetragen und die Basis dafür gelegt, dass wir in der Lage sind, die aktuelle Krise mit massiven finanziellen Mitteln abfedern zu können.
Gerne möchte ich mit einem Zitat von Ronald Reagan, dem 40. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, schliessen: «The most terrifying words in the English language are: I‘m from the government and I‘m here to help”.