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Gesamtarbeitsverträge: ein Faktor für Stabilität und Wohlstand

Bild zeigt eine Unterschriftenmappe mit der Aufschrift "Arbeitsvertrag". Gesamtarbeitsverträge: ein Faktor für Stabilität und Wohlstand

Gesamtarbeitsverträge: ein Faktor für Stabilität und Wohlstand. Dank der Sozialpartnerschaft kann sich die Schweizer Wirtschaft auf zahlreiche Gesamtarbeitsverträge stützen, die ohne Eingriffe des Gesetzgebers auf bestimmte Branchen oder Unternehmen zugeschnittene Arbeitsbedingungen bieten. Dieses frei ausgehandelte Regelwerk ist sowohl für die Arbeitgeber als auch für die Arbeitnehmer besser als staatliche Lösungen.

Jeder zweite Arbeitnehmer unterliegt einem GAV

Immer wieder tauchen – sowohl auf kantonaler als auch auf Bundesebene – politische Forderungen auf, die Rechte der Arbeitnehmer im Rahmen der Arbeitsbeziehungen zu erweitern: Mindestlohn, zusätzlicher Urlaub, Arbeitgeberbeteiligungen etc. Abgesehen von der Gefahr, dass die Lohnkosten in einem Land, in dem die Arbeitskosten bereits sehr hoch sind, noch weiter steigen, vernachlässigen diese Forderungen systematisch den Vorrang der Sozialpartnerschaft bei der Festlegung der Arbeitsbedingungen.

Die Sozialpartnerschaft, die die Grundlage für den seit über achtzig Jahren in der Schweiz herrschenden Arbeitsfrieden bildet, kommt in den zahlreichen Gesamtarbeitsverträgen (GAV) zum Ausdruck, die aus dem Dialog und der Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern hervorgegangen sind und die Arbeitsbedingungen innerhalb einer Branche (oder eines Unternehmens) in einem bestimmten geographischen Gebiet ohne Eingreifen des Gesetzgebers festlegen; dieser greift erst später auf Antrag der Sozialpartner ein, um einen GAV für allgemeinverbindlich zu erklären, wenn dieser bestimmte Bedingungen erfüllt – insbesondere die Repräsentativität der unterzeichnenden Organisationen im Verhältnis zur gesamten Branche. Die Allgemeinverbindlicherklärung verhindert eine Wettbewerbsverzerrung zu Ungunsten von Unternehmen, die einem Berufsverband angehören, und ermöglicht es, aus dem Ausland entsandte Arbeitnehmer an die im GAV festgelegten Mindestlöhne zu binden, wodurch die einheimischen Arbeitskräfte vor Lohndumping geschützt werden.

In der Schweiz gibt es etwa 200 Branchen-GAVs (von denen 80 für die gesamte Branche gelten) und etwa 380 Firmen-GAVs, die insgesamt für mehr als 2,1 Millionen Arbeitnehmer gelten. Jeder zweite Arbeitnehmer ist somit einem GAV unterstellt.

Ein Bollwerk gegen den Etatismus

Die Rechte wirft Gesamtarbeitsverträgen manchmal vor, die Freiheit der Arbeitgeber zu beschneiden. Ohne Regeln kann der Wettbewerb auf Kosten der Arbeitnehmer den Arbeitsfrieden gefährden und staatliche Eingriffe erforderlich machen. GAVs haben den Vorteil, dass sie eine gewisse Kohärenz der Arbeitsbedingungen auf der Grundlage von Entscheidungen gewährleisten, die von den Akteuren der Branche selbst getroffen werden. Die Sozialpartnerschaft ist ein Bollwerk gegen den Etatismus und gleichzeitig ein Stabilitätsfaktor.

Den GAV wird auch vorgeworfen, dass sie viel Geld „umsetzen“, um die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, die sie unterzeichnet haben, zu bereichern. In Wirklichkeit werden die Konten der paritätischen Kommissionen, die GAVs verwalten, kontrolliert und die Verwendung ihrer Gelder wird durch die Richtlinien des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) eng begrenzt. Centre Patronal, das das Sekretariat mehrerer Arbeitgeberverbände und – auf getrennte Weise – von mehr als einem Dutzend paritätischer Kommissionen führt, weiss, dass das Funktionieren eines GAV mit Kontrollen, Aufforderungen zur Einhaltung der Vorschriften und möglichen Sanktionen Zeit und Personal erfordert. Die paritätischen Fonds dienen zur Finanzierung dieses Betriebs sowie bestimmter spezifischer Massnahmen in den Bereichen Weiterbildung, Sicherheit und Gesundheit; ein Teil davon kann auch an die Arbeitnehmer und Arbeitgeber zurückgegeben werden, die Mitglieder der unterzeichnenden Organisationen sind. Wenn die eingenommenen Beiträge die Ausgaben übersteigen, müssen die Sozialpartner Mittel und Wege finden, um die sich ansammelnden Reserven abzubauen, dürfen diese aber nicht zur eigenen Finanzierung nutzen.

Gesamtarbeitsverträge dürfen nicht als blosse Trittbretter zu staatlichen Lösungen betrachtet werden.

Staatliche Lösungen entziehen GAVs ihre Daseinsberechtigung

Auf der Linken wird beklagt, dass die Gesamtarbeitsverträge nur einem Teil der Arbeitnehmer zugute kommen. Der derzeitige Geltungsbereich ist bereits beträchtlich, aber es stimmt, dass er grösser sein könnte. Vor einigen Jahren haben die Wirtschaftsverbände der Westschweiz einen Vorschlag zur leichteren Ausweitung des Geltungsbereichs bestimmter Gesamtarbeitsverträge vorgelegt, wenn die Arbeitgeber, die den Vertrag unterzeichnet haben, nicht die Mehrheit der Arbeitgeber vertreten, aber doch eine qualifizierte Mehrheit der Arbeitnehmer in der Branche beschäftigen (System der „Schiebequoren“); die eidgenössischen Räte haben dies leider abgelehnt. Viele Arbeitgeber bekennen sich jedoch nach wie vor klar zur Sozialpartnerschaft und werden weiterhin Projekte zur Stärkung der Sozialpartnerschaft unterstützen, darunter auch neue GAV.

Allerdings müssen alle Sozialpartner am gleichen Strang ziehen. Gute Verhandlungen erfordern auf beiden Seiten Personen, die aus der Praxis kommen, die wissen, was ein Unternehmen ist, und die verstehen, wie sie funktioniert. Darüber hinaus ist es wichtig, dass Gesamtarbeitsverträge nicht als blosse Trittbretter für staatliche Lösungen betrachtet werden. GAVs bieten Arbeitsbedingungen, die auf bestimmte Branchen und Regionen zugeschnitten sind und schnell geändert werden können, wenn sich die Umstände ändern. Gesetze hingegen bieten nur Mindest-, oder gar nicht anwendbare, auf jeden Fall realitätsfremde und zu starre Regeln.

Vor allem aber trägt jede neue staatliche Regelung in diesem Bereich dazu bei, dass die GAVs ihrer Daseinsberechtigung beraubt werden und Arbeitgeber davon abgehalten werden, an den Verhandlungstisch zu kommen, auch um über Lohnanpassungen zu diskutieren. Eine Schwächung der Gesamtarbeitsverträge liegt nicht im Interesse der Arbeitnehmer.

Weiterführende Informationen zum Thema Gesamtarbeitsverträge: ein Faktor für Stabilität und Wohlstand:

Bundesamt für Statistik BFS: Gesamtarbeitsverträge

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Pierre-Gabriel Bieri,
Responsable politique institutions et sécurité

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