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Schweiz-EU: Eine Perspektive für die Wiederaufnahme der Verhandlungen

Schweiz-EU: Eine Perspektive für die Wiederaufnahme der Verhandlungen. Bildquelle unsplash. Das Bild zeigt die EU-Fahne. Nach fast zwei Jahren Stillstand kommen die Dinge in den Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union wieder in Bewegung. Die politischen Akteure – Kantone, Bund, Gewerkschaften – bekunden mehr oder weniger deutlich ihren Willen, dem schwächelnden bilateralen Weg neues Leben einzuhauchen.

Schweiz-EU: Eine Perspektive für die Wiederaufnahme der Verhandlungen: Nach fast zwei Jahren Stillstand kommen die Dinge in den Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union wieder in Bewegung. Die politischen Akteure – Kantone, Bund, Gewerkschaften – bekunden mehr oder weniger deutlich ihren Willen, dem schwächelnden bilateralen Weg neues Leben einzuhauchen.

Die Kantone verkünden ihre Position

Vor fast zwei Jahren gab der Bundesrat seinen Beschluss bekannt, die Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union abzubrechen. Brüssel betrachtete ein solches Abkommen als Vorbedingung für neue sektorielle Verhandlungen. In der Schweiz war der Entwurf des Rahmenabkommens jedoch sowohl von rechts (wegen der Streitschlichtungsmechanismen) wie auch von links (wegen der befürchteten Schwächung der Lohnschutzbestimmungen) unter Beschuss. Seither ist das EU-Dossier thematisch in der Versenkung verschwunden, zumindest was die öffentliche Debatte betrifft.

Die Dinge scheinen jedoch wieder in Bewegung zu kommen. Am 24. März veröffentlichte die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) eine europapolitische Standortbestimmung zum Verhältnis Schweiz / EU. Darin erklärten die Kantone, dass es im Interesse der Schweiz liege, „die Zusammenarbeit mit der EU in gewissen Bereichen weiter zu vertiefen, wo dies der Schweiz überwiegende wirtschaftliche und politische Vorteile bringt“, und nannten dabei ausdrücklich die Bereiche Forschung und Energie. Im Dokument ist die Rede von einer „schleichenden Erosion der bilateralen Abkommen“ und der Notwendigkeit „vertraglich abgesicherter Beziehungen mit der EU“ als Garant für ein „langfristig stabiles Verhältnis“. Die Kantonsregierungen befürworten im Grundsatz einen vertraglich festgelegten Mechanismus zur Streitbeilegung, lehnen aber die Idee einer supranationalen Überwachung der Anwendung der Abkommen mit der EU nach wie vor ab, ausser bei gewissen technischen Fragen. Schliesslich machen die Kantone einige Zugeständnisse bezüglich einer möglichen Übernahme der EU-Regeln über staatliche Beihilfen, aber „nur für die Bereiche, die Gegenstand eines Abkommens sind, das einen verbesserten Zugang zum Binnenmarkt ermöglicht“. Die Pressemitteilung schliesst mit einem Hinweis auf die Bereitschaft der Kantonsregierungen, den Bundesrat zu begleiten und zu unterstützen, wenn dieser Verhandlungen aufnehme.

Wie offen sind die Gewerkschaften?

In der darauffolgenden Woche, am 29. März, bezog sich der Bundesrat ausdrücklich auf die von den Kantonen geäusserte Position und kündigte an, dass er bis Juni die Grundzüge eines Verhandlungsmandats mit der EU festlegen wolle. Er verweist auf die zahlreichen exploratorischen und technischen Gespräche, die bisher stattgefunden haben, und äussert die Meinung, dass es nun an der Zeit sei, Lösungen für die noch offenen Fragen zu erarbeiten. Als Grundlage der Gespräche soll dabei weiterhin der vom Bundesrat vorgeschlagene Paketansatz dienen, bei welchem jedes Abkommen die damit verbundenen institutionellen Fragen regeln soll, und nicht ein einziges Abkommen mit horizontalem Charakter, welches alle institutionellen Fragen in globo adressiert. Das erste Paket würde insbesondere die Bereiche Elektrizität, Lebensmittelsicherheit und Gesundheit betreffen. In Bezug auf den Lohnschutz hat der Bundesrat das Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) beauftragt, in enger Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern und den Kantonen geeignete Massnahmen vorzuschlagen, die das derzeitige Schutzniveau auf dem Schweizer Arbeitsmarkt gewährleisten.

Der Verweis auf den Lohnschutz erscheint wie eine ausgestreckte Hand in Richtung der Gewerkschaften, die sich heftig gegen das Rahmenabkommen gewehrt hatten. Aber auch hier scheint ein Wille erkennbar zu sein, das europäische Dossier nicht länger zu blockieren. Mitte März – Zufall oder nicht? – wurden im Nationalrat zwei parlamentarische Vorstösse sozialdemokratischer Provenienz eingereicht. Zum einen ein Postulat von Samira Marti (23.3204), welches den Bundesrat auffordert, in einem Bericht darzulegen, mit welchen Massnahmen die Abdeckung des Schweizer Arbeitsmarkts durch Gesamtarbeitsverträge erhöht werden kann. Zum anderen eine Interpellation von Cédric Wermuth (23.3374), welche Sanktionen gegen Unternehmen fordert, die in Branchen ohne Gesamtarbeitsvertrag oder Normalarbeitsvertrag Lohndumping begehen.

„Der Lohnschutz ist ein legitimes Anliegen, welches auch von den Arbeitgebern unterstützt wird, doch stellt sich die Frage, mit welchen Mitteln dies bewerkstelligt werden soll. “

Auch den Arbeitgebern ist der Lohnschutz ein Anliegen

Der Lohnschutz ist ein legitimes Anliegen, welches auch von den Arbeitgebern unterstützt wird, doch stellt sich die Frage, mit welchen Mitteln dies bewerkstelligt werden soll. Es ist erfreulich, dass die Gewerkschaften in diesem Zusammenhang die Sozialpartnerschaft wiederentdecken – aber diese kann nicht willkürlich durchgesetzt werden, ebenso wenig wie gesetzlich verankerte Mindestlöhne. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die Arbeitgeberverbände der Romandie in den letzten Jahren einen neuartigen und kreativen Vorschlag unterbreitet haben, um die Ausweitung von Gesamtarbeitsverträgen zu erleichtern, wenn das Quorum der Arbeitgeber unter 50 % liegt, jenes der Arbeitnehmer jedoch proportional höher ist. Der Vorschlag fand im Parlament leider keine Zustimmung.

Solange nicht klar ist, wie eine Einigung mit den Gewerkschaften aussehen könnte, ist es schwierig, die effektiven Erfolgschancen eines Neustarts der Verhandlungen mit Brüssel einzuschätzen. Der Bundesrat selbst äussert sich zu dieser Frage nur sehr zurückhaltend. Es ist lediglich davon die Rede, die Grundzüge des künftigen Verhandlungsmandats festzulegen. Damit ist noch nichts darüber gesagt, wann die Verhandlungen beginnen können.

Aus der aktuellen Situation kann man die Schlussfolgerung ziehen, dass sich die verschiedenen politischen Akteure heute der Position annähern, die seit mehreren Jahren von der Privatwirtschaft vertreten wird: Der bilaterale Weg mit der EU trägt zum Wohlstand der Schweiz bei und muss daher fortgesetzt werden. Dazu ist es erforderlich, bestehende Abkommen zu aktualisieren und weiterzuentwickeln sowie neue Abkommen auszuhandeln. Dies kann nicht erreicht werden, ohne zu akzeptieren, dass auch einige Zugeständnisse an die EU gemacht werden müssen, welche verlangt, dass diese Abkommen in einen stabilen und dauerhaften institutionellen Rahmen eingebettet werden.

Diese Haltung ist heute aktueller denn je.

Weiterführende Informationen zum Thema des Staatssekretariats für Wirtschaft SECO:

Wirtschaftsbeziehungen mit der EU

Studien zur Bedeutung der Bilateralen I

Volkswirtschaftliche Auswirkungen eines Wegfalls der Bilateralen I

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Pierre-Gabriel Bieri,
Responsable politique institutions et sécurité

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