- Bern, Parlament, Politik - Pierre-Gabriel Bieri
Volksrechte: mit Fingerspitzengefühl regulieren
Die Auswüchse bei bestimmten Unterschriftensammlungen sind ein gefundenes Fressen für jene, die jede Form der „bezahlten Unterschrift“ verbieten wollen. Will man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten und die Volksrechte nicht in die Hände von einigen wenigen militanten Organisationen legen, sind weniger einschneidende Massnahmen das Mittel der Wahl. Beispielsweise ein gewisses Mass an Digitalisierung oder ein von der Bundeskanzlei vorgeschlagener Verhaltenskodex.
Zahlreiche Missstände
Die Modalitäten für die Sammlung von Unterschriften zur Unterstützung von Referenden oder Volksinitiativen sorgen in Politik und Medien für Aufruhr. Die Komitees, die für die Unterschriftensammlung verantwortlich sind, wissen schon lange, dass sie junge Leute anwerben können, um an die Unterschriften auf Märkten und Strassen zu kommen. Diese Praxis hat in den letzten Jahren so stark zugenommen, dass Unternehmen jetzt diese Dienstleistung kommerziell anbieten. Bei einigen dieser Anbieter ist zu Recht ein Fragezeichen hinter ihre Unternehmensethik zu stellen: Schlecht ausgebildete Unterschriftensammler, die die Texte, die sie unterschreiben lassen, kaum lesen, geschweige denn verstehen, das Anpöbeln von Passanten und manchmal sogar Betrug, in der Hoffnung, sich ein paar Unterschriften zu krallen, um so an Geld zu kommen. Es gab auch Unternehmen, die ohne Auftrag Unterschriften sammelten und dann Druck auf die Komitees machten, Unterschriften zu kaufen, die diese gar nicht bestellt hatten. Besonders gravierend ist, dass ganze Serien von gefälschten, offensichtlich nachgeahmten oder erfundenen Unterschriften entdeckt wurden.
Angesichts dieser Situation könnte ein liberaler Ansatz in die Richtung gehen, dass letztlich die Bürger dafür verantwortlich sind, dass sie das, was sie unterschreiben, sorgfältig lesen und sich von Unterschriftenjägern nicht ins Bockshorn jagen oder täuschen lassen. Was die Komitees angeht, die sich dubioser Firmen bedienen, so holt sie das früher oder später ein: Nämlich dann, wenn die Presse davon Wind bekommt, werden sie für dieses Verhalten angeprangert und verlieren ihre Glaubwürdigkeit. Diese Sicht der Dinge ist zwar nicht falsch, aber eine Laissez-faire-Haltung ist nicht die Lösung – auch nicht für das Problem der gefälschten Unterschriften.
Im Gegensatz dazu liebäugelt ein Teil der Politik mit einem interventionistischen Ansatz und fordert die Kontrolle oder das Verbot von Unternehmen, die Unterschriften sammeln, oder sogar das Verbot jeglicher Form von bezahlten Unterschriften.
Digitalisierung und Verhaltenskodex
Eine dritte Betrachtungsweise scheint sich glücklicherweise in den Köpfen festzusetzen: Die Einführung eines digitalen Systems, das die Identität der Personen, die einen Text unterzeichnen, garantiert und gleichzeitig die Validierung der Unterschriftenlisten durch die Gemeinden oder Kantone erleichtert. Das Problem der Marktschreier und rücksichtslosen Unterschriftenjäger wäre damit zwar nicht gelöst, aber das, was gesetzlich vorgeschrieben ist, nämlich die Echtheit der Unterschriften, wäre gestärkt. Allerdings ist auch dies nur die halbe Lösung: Das digitale System bliebe rein optional und physische Unterschriften wären nebst der digitalen parallel zu akzeptieren.
Am Rande dieser grossen Grundsatzdebatte entstehen kleinere, aber kurzfristig leichter umsetzbare Massnahmen, die nicht perfekt sind, sondern die Praxis verbessern. So hat die Bundeskanzlei auf der Grundlage der Überlegungen einer Arbeitsgruppe einen Entwurf für einen „Verhaltenskodex” für alle privaten und öffentlichen Akteure ausgearbeitet, die an Unterschriftensammlungen beteiligt sind. Dieses Dokument wurde Anfang des Sommers zur öffentlichen Vernehmlassung vorgelegt. Auf 10 Seiten legt es Verantwortlichkeiten und Verhaltensregeln sowie Grundsätze der Transparenz und Sorgfalt fest. Es bildet die Grundlage für Leistungsverträge, die politische Komitees und die sie unterstützenden kommerziellen Dienstleister binden sollen. Für Letztere enthält es eine Liste bewährter Praktiken, darunter auch zur Vergütung der Unterschriftensammler. Diese Vergütung sollte idealerweise auf dem Zeitaufwand basieren und ergänzend sich zusätzlich nach der Anzahl der gesammelten Unterschriften richten.
Dieser Verhaltenskodex wäre zwar nicht rechtsverbindlich, aber es stellt sich die Frage – die auch Teil der Konsultation ist –, ob eine Kontrolle der Akteure, die sich zu seiner Unterzeichnung bereit erklärt haben, möglich wäre.
„Volksrechte dürfen nicht grossen Organisationen vorbehalten sein, die über eine breite Basis von Aktivisten verfügen, die regelmässig für solche Aktionen geschult werden.“
Der Zugang zu den Volksrechten muss gewährleistet sein
Auch wenn bewährte Praktiken selbstverständlich sein sollten, ist es sinnvoll, sie in einem einfachen und kurzen Dokument zusammenzufassen. Das ist der Vorschlag der Bundeskanzlei. Es ist wichtig zu betonen, dass diese bewährten Praktiken nicht nur für kommerzielle Dienstleister gelten, sondern für alle privaten und politischen Akteure in der Öffentlichkeit.
Besonders erfreulich ist, dass der Einsatz von bezahlten Personen für die Unterschriftensammlung nicht per se als verwerflich angesehen wird. Volksrechte müssen für alle zugänglich sein: Sie dürfen nicht grossen Organisationen vorbehalten sein, die über eine breite Basis von Aktivisten verfügen, die regelmässig für solche Aktionen geschult werden.
Was die Aussicht auf eine digitale Infrastruktur für die elektronische Unterschriftensammlung angeht, so ist das sicher eine Erwartung eines Teils der Bevölkerung. Man sollte der digitalen Infrastruktur eine Chance geben, um ihre Zuverlässigkeit und ihr Potenzial für politische Komitees und Bürger zu testen – ohne sie von Beginn verpflichtend zu machen: Die Rechte des Volkes müssen einfach und für alle zugänglich bleiben! Ziel ist es, die kleinen Grauzonen rund um den Ausgang von Referenden und Volksinitiativen so weit wie möglich zu reduzieren, ohne dabei das Hauptanliegen aus den Augen zu verlieren, nämlich die Richtigkeit der Volksabstimmungen.
Weiterführende Informationen “Volksrechte: mit Fingerspitzengefühl regulieren“
Bundeskanzlei BK: Öffentliche Konsultation zum Verhaltenskodex Unterschriftensammlungen