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- Bern - Pierre-Gabriel Bieri

Das Kapital ist nicht der Feind der Arbeit – NEIN zur 99%-Initiative

Die „99%“-Initiative will die Steuerzahler gegeneinander ausspielen und verspricht, die Reichen viel stärker und die Armen vielleicht etwas weniger zu besteuern. Sie stellt Arbeit und Kapital als Gegensätze dar, obwohl beide voneinander abhängig sind. Indem sie auf diejenigen abzielt, die ihr Geld arbeiten lassen, benachteiligt sie die Wirtschaft, einschliesslich der KMU.

„Gerechte“ Besteuerung mit 150%

Am 26. September stimmen Volk und Stände über die so genannte „99%“-Initiative ab – gemeint sind die 99% der Bevölkerung, die arbeiten, um Wohlstand zu schaffen, im Gegensatz zu den 1% der Privilegierten, die sich allein durch die Rendite ihres Kapitals bereichern. Der offizielle Titel der Initiative lautet: „Löhne entlasten, Kapital gerecht besteuern“. Wer würde einem solchen Titel nicht zustimmen?

Es ist jedoch wichtig zu wissen, was unter „gerechter Besteuerung von Kapital“ zu verstehen ist. In diesem Fall sieht der Text vor, dass Kapitaleinkünfte, die einen bestimmten Betrag übersteigen (der im Gesetz definiert werden soll, aber es ist beispielsweise von 100’000 CHF die Rede), zu 150% besteuert werden, d.h. 50% höher als andere Einkünfte. Das Kapital, dessen Erträge auf diese Weise mit Zuschlägen belegt werden sollen, ist nicht genau definiert. Den Verfassern der Initiative zufolge handelt es sich bei den angestrebten Einkünften um solche aus beweglichem Vermögen (Zinsen, Dividenden) oder Immobilienvermögen (Mieten).

Private Kapitalgewinne, die derzeit von der Einkommenssteuer (aber nicht von der Vermögenssteuer) befreit sind, würden steuerpflichtig werden. Dividenden, die aus guten Gründen teilweise besteuert werden (weil sie bereits als Unternehmensgewinne besteuert wurden), würden eineinhalbfach besteuert, sobald sie den Schwellenwert überschreiten.

Die Autoren der Initiative halten es für „gerecht“, Kapitaleinkommen stärker zu besteuern als Arbeitseinkommen, weil „Geld nicht arbeitet“ und diejenigen, die von ihrem Kapital leben, den Reichtum der Schweiz vereinnahmen, ohne zum Wohlstand des Landes beizutragen. Dies würde die Ungleichheit zwischen den immer reicher werdenden Reichen und den immer ärmer werdenden Armen verringern…

Zu Beginn der Kampagne scheint die Initiative nicht den Enthusiasmus der 99% der Bevölkerung zu wecken, die davon profitieren soll… Vielleicht wird der Eindruck erweckt, dass dieser Text ein Scheinproblem anspricht und nicht auf die richtigen Ziele ausgerichtet ist?

Hauptsächliche Nebenopfer: die Unternehmen

Zunächst einmal entspricht die alarmistische Einschätzung der Verfasser der Initiative nicht der Realität. In der Schweiz ist der Anteil des Arbeitseinkommens hoch und stabil: rund 70% gegenüber 30% durch Kapitaleinkommen. Dieser Anteil ist in der Schweiz höher als in vielen anderen Ländern. Gleichzeitig ist die Ungleichheit in der Schweiz weniger ausgeprägt als in anderen Ländern, wie die OECD-Rangliste zeigt, in der wir nach Island und der Slowakei an dritter Stelle der „gleichsten“ Länder stehen.

Die Initiative übersieht zudem, dass die Schweiz einer von nur vier europäischen Staaten ist, der immer noch eine Vermögenssteuer erhebt, obwohl diese Steuer in vielen Ländern der Welt abgeschafft worden ist. Diese Steuer, die im Allgemeinen zur Besteuerung von Vermögenserträgen hinzukommt, ermöglicht, wie bereits erwähnt, auch die Besteuerung von Vermögen aus privaten Kapitalerträgen.

Es gibt keine „Steuerschlupflöcher“, und es sei daran erinnert, dass 1% der Steuerzahler – auf die die Initiatoren mit dem Finger zeigen – 40% der direkten Bundessteuereinnahmen zahlen. Vor allem aber betrifft die Besteuerung von Kapitaleinkünften nicht nur wohlhabende Steuerzahler, Vermieter, die Einkünfte aus Mieten erzielen, oder Immobilienbesitzer, die ihre Immobilien verkaufen, sondern auch die Unternehmen, einschliesslich der KMU. Bei vielen dieser Unternehmen handelt es sich um Familienbetriebe, die als Aktiengesellschaften organisiert sind, und eine – an sich ungerechtfertigte – Überbesteuerung ihrer Eigentümer würde sich auch auf die Unternehmen selbst auswirken. Studien von Swiss Family Business und economiesuisse zeigen die drei Bereiche auf, in denen die Initiative die grössten Auswirkungen haben würde: die laufende Besteuerung von KMU, die Nachfolgeplanung und der Verkauf von Start-ups.

Eine Logik des Klassenkampfes

Es ist daher klar, dass die „99%“-Initiative, die einen Teil der Steuerzahler gegen einen anderen ausspielen will, sehr negative Auswirkungen haben würde. Aber hat sie auch einen Nutzen? Denn sie verspricht auch, dass die zusätzlichen Steuereinnahmen – schätzungsweise 10 Milliarden Franken! – für „eine Senkung der Besteuerung von Personen mit kleinen und mittleren Arbeitseinkommen oder für Transferzahlungen zugunsten des sozialen Wohlstands“ verwendet werden würden. Leider ist dieser zweite Teil der Initiative noch ungenauer als der erste. Würde der Bund schlussendlich seine direkte Bundessteuer senken, die die tiefen Einkommen kaum trifft? Oder würde er die Option von „Transferzahlungen“ vorziehen, d.h. Subventionen für staatliche Massnahmen, deren Auswirkungen kaum jemand direkt spüren würde?

Was die Kantone betrifft, so kann niemand sagen, wie sie ihren Anteil an diesem Geldsegen umverteilen würden, vorausgesetzt, er ist wirklich so gross, wie man sich das vorstellt. Es wäre daher leichtsinnig, über hypothetische Steuersenkungen zu spekulieren. Die „99%“-Initiative, von der man vermuten könnte, dass sie vor allem aus wahltaktischen Gründen lanciert wurde, folgt der Logik des Klassenkampfes und verspricht, die Reichen viel stärker und die Armen nach Möglichkeit etwas weniger zu besteuern. Anstatt den allgemeinen Wohlstand zu fördern, untergräbt sie ihn, indem sie Arbeit und Kapital gegeneinander ausspielt, obwohl beide in den meisten Fällen voneinander abhängig sind. Daher werden wir ohne zu zögern mit NEIN stimmen.

Kampagnen:

Nein zu 99%

100% schädlich



Pierre-Gabriel Bieri,
Responsable politique institutions et sécurité

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